Vogel oder Frosch?

Freeman Dyson (1923-2020)

Dysons Essay Vögel und Frösche

In den Mitteilungen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung Heft 1 (2020) erschien Dysons Essay Vögel und Frösche in der Übersetzung von Sylvia Zirden. Das hat uns sehr verwundert, denn eine deutsche Übersetzung gab es bereits. In unserem kleinen Verlag e-enterprise ist sie 2014 erschienen, reich bebildert, quasi als Einstieg und Motto für zukünftige Bücher. Ihm folgten Bücher von Terence Tao, Yuri Manin, Pierre Cartier, Paul Cohen u.a. Vögel und Frösche wurde als E-Book über 1300 Mal heruntergeladen, Freeman Dyson hat sich über Illustrationen und Übersetzung gefreut, nur mit dem Chanson von Monique Morelli/Mac Orlan haben wir uns mit ihm schwergetan.

Cover Freeman Dyson Vögel und Frösche
















Cover Vögel und Frösche, e-enterprise, 2014.

 

Über Freeman Dyson

Am 28.2.20 ist Freeman Dyson im Alter von 96 Jahren gestorben. Über sein Leben kann man in seiner Autobiografie Maker of Patterns (2018) [1] viel erfahren, zumindest über die Jahre 1941-78, über seine Begegnungen mit Richard Feynman, Kurt Gödel, Abram Besikowitsch, Hermann Weyl u.v.a.m. Diese Autobiografie hat ein ungewöhnliches Format: Es sind Briefe, die er an seine Eltern und seine Schwester geschrieben hat. Sie sind gut lesbar und behandeln nur wenige mathematische Themen. Er erzählt manche Episode – und sein Leben war tatsächlich sehr aufregend. Der Schnittstelle von Mathematik und Physik galt sein wissenschaftliches Interesse. Als junger Student war er ein Semester mit dem damals noch unbekannten Richard Feynman zusammen, später dann mit Julian Schwinger. Sie entwarfen neue Modelle für die Quantenmechanik und die Quantenfeldtheorie, wofür die beiden Physiker zusammen mit  Shin’ichirō Tomonaga, ebenfalls Quantentheoretiker, 1965 den Physik-Nobelpreis erhielten.  Dyson gelang es, die Äquivalenz der Theorien zu zeigen. In [2, S. 36] erklärt er die berühmte Sum Over Histories, heute Pfadintegral genannt, als eine Summe der Übergänge OH über alle Wege zwischen zwei Zuständen σ1 und σ2:

Dyson Formel1



Feynmans Pfadintegral
















 
Feynmans Pfadintegral [2, S. 35]

Dysons relativistische Variante finde ich besonders bemerkenswert: Hier wird die Übergangswahrscheinlichkeit durch eine Bilinearform O(x) definiert. Diese ist zwischen zwei Oberflächen σ1 und σ2 definiert, wobei x in der Zukunft von σ1 und in der Vergangenheit von σ2 liegt:
dyson-formel_2



Dysons relativistisches Pfadintegral
















Dysons relativistisches Pfadintegral

Es wird wieder über alle Wege durch x von σ1 nach  σ2 summiert. In beiden Fällen gibt es eine komplexe Exponentialfunktion, die man als Lösung der Schrödingergleichung erhält und die den Wellencharakter des Teilchens offenbart.

Dyson untersuchte auch die Übergänge vom Quantenmodell zum klassischen Teilchenmodell, indem er in der Formel für die Übergangswahrscheinlichkeit zweier Zustände in der Gleichung

Dyson-Formel 1



das Wirkungsquantum ħ nach Null gegen ließ:

Dyson Formel 4


Für mich als Mathematikerin ist das eine unvorstellbare, ja verbotene Herangehensweise, eine positive Konstante zu ändern. Doch Dysons tat es und kam auf
 
„0/0“,

und erhielt so mit physikalischen Argumenten sein klassisches Modell. [2, S. 36]
 
Weitere wissenschaftliche Interessen

Er sah sich selbst als Rebel Without a PhD. [3, 4] An Schwierigkeiten, Hindernissen und Problemen mangeltes es nicht in seinem Leben: Zum Beispiel wurde seine Quantenfeldtheorie vom Robert Oppenheimer, seinem Vorgesetzten am Manhattan-Projekt und Direktor des Institute of Advanced Studies, nicht anerkannt.

Nach Mitwirkung am Manhattan-Projekt zur Entwicklung der amerikanischen Atombombe setzte er sich für die friedliche, nicht militärische Nutzung der Atomenergie ein. Er reiste in den Zeiten des Kalten Krieges in die Sowjetunion und pflegte dort wie auch weltweit wissenschaftliche Kontakte.
 
Frosch oder Vogel?

In Vögel und Frösche nennt er sich selbst einen Frosch, u.a. weil er den Zusammenhang der zahlentheoretischen τ-Funktion

Dysn Formel 6



(dabei ist η(x) die dedekindsche Eta-Funktion,) zu Lie-Algebren nicht erkannt hatte. Er arbeitete auf beiden Gebieten und fand heraus, dass sich die d-te Potenz von η für manche d:

d = 3, 8, 10, 14, 15, 21, 24, 26, 28, 35, 36, …

als elegante Formel schreiben lässt. Doch es machte keinen Sinn für ihn. Er hatte vergessen, dass sie ihm, dem Physiker, als Dimensionen einfacher Lie-Algebren begegnet war. So schrieb Dyson 1972 in Missed Opportunities [5, S. 636 ff.]. Die Zahlentheorie und die Physik waren damals getrennte Welten für ihn, er konnte diese nicht wie ein Vogel hoch in der Luft überschauen. [6, S. 216]

Freeman Dyson hat sich nach der Quantenfeldtheorie vielen anderen Themen zugewandt, er hat sich sowohl um das Klima der Erde als auch um das Überleben der Menschheit gesorgt. Auch wenn er es anders schreibt, so lässt uns doch jede einzelne seiner Entdeckungen und Ideen als Visionär, ja als Vogel erscheinen.

03.09.2020
Marietta Ehret
Quellen

[1] Freeman Dyson, Maker of Patterns: An Autobiography Through Letters. Liveright Publishing 2018.
[2] Freeman Dyson, Advanced Quantum Mechanics. 2. Aufl., 2006, https://arxiv.org/abs/quant-ph/0608140v1
[3] Freeman Dyson, The Scientist a Rebel, New York Review Books 2006.
[4] Freeman Dyson: A ‘Rebel’ Without a Ph.D. Video vom Quanta Magazine, 2015, https://www.youtube.com/watch?v=rlaPLvETBug. Aufruf am 17.07.2020
[5] Freeman Dyson, Missed Opportunities. Bulletin of the Amer. Math. Soc. Vol. 78 Number 5 (1972), S. 635-652 ff.
[6] Freeman Dyson, Birds and Frogs. Notices Amer. Math. Soc. 56 (2009), 212-223.

Titelbild: aus [4].